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  • AutorenbildRegina Rauch-Krainer

Reise des Lebens: Über das Tagebuch-Schreiben

Aktualisiert: 5. Feb. 2021

12.000 Tage und noch ein paar mehr mein eigener Storyteller ...













Eigentlich sollte ich an dieser Stelle, wie eventuell erwartet, eine professionelle Anleitung zum Tagebuchschreiben liefern. Verzeihen Sie! Ich mache es nicht, da es aus meiner Sicht so eine gar nicht gibt. Denn es geht hierbei um eine zutiefst persönliche Angelegenheit, die sich in keine Schablone zwängen lässt. Ist dieses Zwiegespräch mit sich selbst einmal zur Herzenssache geworden, funktioniert es ohnehin ganz von allein. Das ist meine Erfahrung – sie ist nun knappe 33 Jahre alt.



Wie alles begann


„Viel Schlaf!“ lautete meine müde Premieren-Eintragung am Neujahrstag des Jahres 1988. Und sie stand noch dazu in einem optisch zweifelhaften Kalender – ein gutgemeintes Werbegeschenk. Wie die Silvesternacht zuvor verlaufen war, an das kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich werde es wahrscheinlich auch nie mehr erkunden können, vielleicht auch ganz gut so. Seit diesem Zeitpunkt jedenfalls ist die Reise meines Lebens auf Papier festgehalten – Tag für Tag und fast immer ausgeschlafen! Zugegeben auf Tag eins folgte noch der Vermerk „Vormittag langer Schlaf“ am Tag drei – der Rutsch ins Neue Jahr muss also wirklich anstrengend gewesen sein – aber Schritt für Schritt wurden die Notizen in den Tagesspalten des guten alten Kalenders ausführlicher, munterer und gehaltvoller. Ohne dass ich es bewusst vorhatte, schrieb ich wie selbstverständlich täglich weiter. Mit Jahresmitte trat ich meinen Dienst bei der Österreich Werbung an und wusste bald meine Intuition zu deuten. Reisen, viel unterwegs sein, ständig neue Impulse, viele Begegnungen, Eindrücke und Erlebnisse boten immer mehr Schreibstoff und forderten zumindest am Papier ihre Ordnung ein.



Das Papier


Der Werbekalender wurde mit dem nächsten Jahreswechsel gegen ein würdigeres Format eingetauscht, den „Tebe Ideal Luxus-Chefkalender“. Ideal für mich nicht des Namens wegen (nein!), sondern weil er mir für jeden Tag eine ganze leere Seite bietet und weitere wertvolle Nützlichkeiten in puncto Übersicht. Ich bleibe ihm nun – resistent gegen alle möglichen virtuellen Versuchungen – bereits seit 32 Jahresausgaben aus voller Überzeugung treu. Einzig die Farbe wechsle ich ab und zu. Jährlich bereits im Frühherbst fragt der nette Mitarbeiter des Schreibwarengeschäftes meines Vertrauens bei mir nach, für welche Optik des Ledereinbandes (dieser Luxus ist wahrlich berechtigt!) ich mich diesmal entschieden habe. Ein Ritual, das mich jedes Jahr aufs Neue in Rührung versetzt und meinem Tagebuchkauf die persönliche Wertigkeit verleiht, die ein anderer vielleicht seinem Autokauf zuschreiben würde.



Dokumentation, Reflexion, Von-der-Seele-Schreiben, Demut


Warum schreibe ich nun täglich seit über 12.000 Tagen in mein lederverkleidetes Buch? Aus vier Gründen: Ganz oben auf der Liste steht die Dokumentation. Ich finde es einfach wunderbar, nicht zuletzt in Zeiten angehender Vergesslichkeit, mein Leben aufgezeichnet zu wissen, wann ich wo war, was ich erlebt habe, welche Begegnungen ich mit welchen Menschen wann hatte. Ich liebe es, meine persönlichen Jahresstatistiken aufgrund meiner Notizen zu machen. Wie oft war ich mit meiner (nun leider verstorbenen) Hündin Bertha joggen? Über 2050 Mal entlang des Forstsees – unvergessliche gemeinsame Stunden! Wie oft war ich im Wörthersee schwimmen, wie oft in Wien in welchem Theater, wie oft mit meinen Reisegästen in Venedig, welche Bücher habe ich gelesen und und und. Allein durch das Niederschreiben habe ich das Gefühl, dass sich das alles in irgendeiner Weise manifestiert und erst so wirklich abgeschlossen ist. Vor allem aber wird es durchs Nachlesen wieder in wertvolle Erinnerung gerufen. Und nicht nur das! Es ist auch höchst spannend, sich selbst zeitversetzt zu lesen und dabei seinen eigenen Wandel in Bezug auf Prioritäten, Ansichten, Einstellungen, Handschrift etc. zu beobachten.


Ein zweiter für mich bedeutender Anreiz, Tagebuch zu schreiben, ist die tägliche Übung der Reflexion. Als munterer Morgenmensch schreibe ich beim Frühstückskaffee meine Notizen zum Vortag. Da bin ich gezwungen, die Geschehnisse noch einmal Revue passieren zu lassen, zu reflektieren, zu überlegen, was gut und weniger gut war. Mit dieser bewussten Analyse habe ich die Chance, auch nützliche Lehren zu ziehen, mich zu loben oder zu tadeln. Und diese Überlegungen wirken auch oft wie ein Ideengenerator für Neues, für Kreatives.


Und natürlich gibt es noch einen gewichtigen Grund, zur persönlichen Feder zu greifen. Ich kann mir damit einfach von der Seele schreiben. Ob Leid, ob Freud! Boxsack, Klagemauer, Beichtstuhl, Schwester, Freundin, Psychotherapeut – ein Tagebuch ist multifunktional.


Über die Jahre kristallisierte sich für mich noch ein weiteres Bedürfnis heraus, dem ich im ständigen Zwiegespräch mit mir selbst ganz gut nachkommen kann: dem bewussten Danken. Täglich gilt es drei „Dinge“ niederzuschreiben, für die ich dankbar bin. Und schon fühle ich mich wieder ein Stück zufriedener – nach dieser Übung der Demut.




Lebensbegleiter


Zu schreiben gibt es für mich immer viel – ob auf meinen zahlreichen Reisen, im ganz normalen Alltag oder im Lockdown. Einmal über jenes, das von außen einströmt, einmal über jenes, das von innen kommt und auf Papier festgehalten werden will. Rund 4000 Schreibstunden habe ich bis jetzt meinem eigenen Leben und mir ganz persönlich gewidmet. Das Tagebuch ist zu meinem treuen und engst vertrauten Begleiter, nicht nur auf meinen Reisen durch die Welt, sondern auf meiner Reise durch das ganze Leben geworden, das Schreiben zu einem unverzichtbaren Ritual – mindestens auf Stufe des Zähneputzens. Und um die positive Wirkung von Ritualen weiß man ja.


Gerade jetzt bewegen wir uns in Zeiten, in denen selbstverständliche Gewohnheiten, darunter jene mit rituellem Charakter, plötzlich nicht mehr selbstverständlich sind. Warum sich nicht auf Neues einlassen, was möglich und erlaubt ist? Wie wäre es mit Tagebuch-Schreiben? Gerade jetzt, wo die Zeiten so besonders sind und zur Ruhe mahnen! In welcher Form, in welcher Intensität und in welcher Absicht auch immer. Denn sein eigener Storyteller zu sein, das hat etwas. Besonders auch mit der Perspektive auf zumindest einen sehr interessierten Zuhörer, respektive Leser – den Protagonisten selbst. Und die Story wird sicher gut. Denn: Das Leben schreibt eben die besten Geschichten!


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